Aloe-Vera-Blätter aufgeschnitten

Märchenhafte Aloe vera

Was an der viel gepriesenen Wirkung der Wüstenpflanze dran ist, kann man nur selbst entscheiden

(pp).- Geht man nach den zahlreichen Veröffentlichungen zu Aloe Vera, insbesondere im Internet, dann handelt es sich dabei um eine Zauberpflanze. Die dickfleischige Wüstenlilie fiel schon in vergangenen Jahrhunderten durch eine ganz besondere Fähigkeit auf: Verletzungen eines Blattes „heilt“ die Pflanze beinahe augenblicklich wieder. So geht kaum ein Tropfen der kostbaren Blattflüssigkeit verloren.

Aloe Vera: Schutzschild und Lichtbringer

In neuerer Zeit gibt es kaum mehr eine Krankheit, für deren Heilung nicht Aloe Vera angeboten wird: äußerlich bei Wunden, Verbrennungen, Hautreizungen, Strahlenschäden und Neurodermitis, innerlich eingenommen gegen Verstopfung, Husten, Kopfschmerzen, Allergien, Rheuma, Herzerkrankungen, Aids und Krebs. Optimal sei die Anwendung innerlich und äußerlich. Hauptsächlich soll hinter der wundersamen Wirkung Acemannan stecken. Folgende Eigenschaften werden dem Stoff zugeschrieben:

– Schutz des Knochenmarks vor Schädigungen durch chemische Gifte und belastende Drogen

– allumfassende Immunkräftigung sowie gesteigerte Entgiftung und Versorgung der Zellen, da Acemannan alle Zellmembranen erreiche

– enorme Energetisierung durch verbesserten Stoffwechsel

– Schutzfunktion im kindlichen Körper, um Verletzungen schnell zu heilen und Kinderkrankheiten gut zu überstehen; mit beginnender Pubertät werde die Produktion eingestellt

Die österreichische Vertriebsorganisation Lifeteam Network setzt noch eins drauf und preist Acemannan an als das „schiere Jungbrunnenhormon“. Es verbessere „wesentlich die Zellatmung“, lagere sich „direkt in die Zellwände ein“ und „bilde einen Schutzschild gegen eindringende Viren, Bakterien, Pilze und Parasiten“. Und vor allem: Acemannan durchlichte „nachweislich all unsere Zellen“ und hebe „sie in ihrer Frequenz an“. Schon die Verbesserung der Zellatmung ist ein dubioser Begriff, denn als Zellatmung werden sämtliche zellulären Stoffwechselvorgänge bezeichnet, bei denen Sauerstoff im Spiel ist. Und das sind so ziemlich unendlich viele. Dass ein Zuckermolekül wie Acemannan einen Schutzschild gegen was auch immer bilden könne, setzt eine sehr vereinfachte Vorstellung des Stoffwechsel- und Immungeschehens voraus, bei der die Idee zweier mittelalterlicher Ritter eine Rolle spielt, die gegeneinander beim Turnier antreten. Und bei der „Durchlichtung“ der Zellen bleibt dem Autor nur ein gehöriger Respekt vor der Phantasie des jeweiligen PR-Beauftragten. Um ein Hormon handelt es sich bei Acemannan jedenfalls nicht.

Aloe vera oder Gänseblümchen?

Der Mediziner Dr. med. M. Trommlitz ordnet Acemannan sehr nüchtern ein: Es sei ein Mehrfachzucker-Molekül, speziell ein Mucopolysaccharid. Mucopolysaccharide kämen als „Gerüstsubstanzen in Haut, Bindegeweben und Knorpel vor“, seien „aber auch in Körperschleimen, Schweiß und Urin enthalten“. Dass „Acemannan nur bis zur Pubertät vom Körper synthetisiert“ werde, sei eine Behauptung ohne Substanz. Vermutlich verändere sich die Zusammensetzung der Mucopolysaccharide passend zum jeweiligen Lebensalter.

Aloe-Vera-Verkäufer, die sich nicht auf so spezielle naturwissenschaftliche Gefechte einlassen wollen, argumentieren sehr viel einfacher, aber auch wirkungsvoll. So eine Schweizer Vertriebsorganisation: „Die Aloe Vera Barbadensis Miller enthält ca. 200 Inhaltsstoffe. Die positive Wirkung der Aloe Vera ist nicht einzelnen Substanzen zuzuschreiben, sondern dem ausgewogenen Verhältnis aller Inhaltsstoffe zueinander.“ Manche Anbieter sprechen von 160, andere von 220 Inhaltsstoffen, der Aloe-Vera-Prophet Michael Peuser kommt auf 300. Das klingt gut, ist vermutlich auch gar nicht falsch und lässt den naturwissenschaftlich komplett Unbeleckten staunen: „Dann muss das wirklich gut sein.“ Doch dieselbe Aussage würde ebenso gut auf die meisten pflanzlichen Produkte zutreffen: Sauerampfer, Löwenzahn oder Gänseblümchen, von Äpfeln, Knoblauch oder Ingwer ganz zu schweigen.

Bei der Argumentation für Aloe-Vera-Produkte wird mit harten Bandagen gekämpft. Der Aloe-Vera-Marktführer Forever Living Products International ist zum Beispiel als gigantischer Strukturvertrieb (Multi-Level-Marketing) in über 100 Ländern aufgebaut. Gemeint ist damit eine Vertriebsform, bei der die Produkte nur über private Vertriebskanäle abgesetzt werden. Dabei versucht jeder Verkäufer weitere Unterverkäufer zu werben, an deren Umsatz er mitverdient. In diesem System die nötige Distanz beim Kauf zu wahren, ist schwierig, schließlich ist der Verkäufer ein Arbeitskollege, die beste Freundin oder sogar die eigene Schwester. Dann muss das doch stimmen!

Und trotzdem …

Was einen nicht abhalten braucht, Aloe-Vera-Produkte zu erwerben, damit zu cremen und sie einzunehmen. Dann aber mit einer gewissen Lust und Bereitschaft, mit den eigenen Glaubensvorstellungen den Placeboeffekt zu verstärken. Auf seinen Körper zu hören, hat noch nie geschadet, unabhängig von wissenschaftlichen Kritikastern, für die nur wirkt, was sich im Doppel-Blind-Versuch belegen lässt; aber eben auch unabhängig von den Einflüsterungen einer schlagkräftigen Struktur-Vertriebs-Maschinerie. Forever Living Products International etwa hat es sogar einmal geschafft, in die Forbes-Liste aufgenommen zu werden. Dort landen nur die 400 weltweit umsatzstärksten Privatunternehmen. Einer der Gründe ist der hohe Preis, der sich über die private Vertriebsschiene halten lässt. Während im Biohandel inzwischen der Liter Aloe Vera Saft bereits für unter 10 Euro erhältlich ist, erzielt der Stukturvertrieb noch 20 Euro und mehr – ohne Bioqualität.

Auf den eigenen Körper zu hören, empfiehlt sich vor allem deswegen, weil kritische Publikationen – darauf machte auch die Süddeutsche Zeitung aufmerksam – von schweren Allergien und Hautausschlägen nach der Verwendung Aloe-Vera-haltiger Cremes berichten sowie von potentiell krebserregenden Veränderungen der Darmschleimhaut nach der Einnahme von Aloe-Vera-haltigen Säften und Tinkturen. Und die American Cancer Society berichtet: „Several people with cancer have died as a direct result of receiving aloe injections.“ Umgekehrt dokumentiert die Weltgesundheitsorganisation WHO wenigstens eindeutig positive Wirkungen auf die Haut. Und Aloin-haltige Abführmittel wirken nachweislich erfolgreich. So genannte Qualitätszeichen wie das Siegel des International Aloe Science Council (IASC) oder des Institut Fresenius sind eindrucksvoll, sagen jedoch nur etwas über die Produktreinheit aus, aber nicht über die Wirkung. Die geht möglicherweise übers Körperliche weit hinaus. In Esoterik-Kreisen gilt Aloe nämlich ebenfalls als Geheimtipp. Räucherungen damit sollen nämlich „die Aufmerksamkeit der Götter auf den Anwender lenken“ – hoffentlich mit positivem Effekt.

[Quellen: aloevera-lr.ch; alosan.biz; cancer.org; de.narkive.com; esoterik-market.com; found.at/aloevera; lifeteam-network.at; medfuehrer.de; novafeel.de; psoriasis-netz.de; sueddeutsche.de; Verbraucherzentrale NRW; vitalpilze.de; wehrhafte.medizin.se; wikipedia]



Bobby Langer hat viele Jahre lang als freier Journalist und im PR-Geschäft gearbeitet. Seine Spezialität ist das sorgfältige Zuhören und die verständliche Formulierung auch schwieriger Sachverhalte. Bei ecoFAIRpr hat er zurzeit die Redaktionsleitung.


'Märchenhafte Aloe vera' has no comments

Be the first to comment this post!

Would you like to share your thoughts?

Your email address will not be published.

© Ein Blog von Rudolf Langer | Redaktion | Impressum | Datenschutzerklärung