Vitamin B12, ein tierisches Vitamin

Blut, Nerven und DNA – sie alle funktionieren nicht ohne Vitamin B12

(efp).- Seit der Aufbau von Vitamin B12 im Jahr 1955 vollständig entschlüsselt wurde, streiten sich Experten darum, wie viel davon und vor allem ob wir uns das Vitamin über die Nahrung zuführen müssen. Bis heute ist dieser Streit nicht vollkommen beigelegt. Er flammt vor allem immer wieder deshalb auf, weil das Cobalamin, so ein zweiter Name für Vitamin B12, nicht von Pflanzen hergestellt werden kann. Wer ausschließlich Obst und Gemüse isst, bekommt von dem Vitamin nichts ab, wer viel Fleisch (insbesondere Leber), Fisch und Milchprodukte verzehrt, lebt im B12-Überfluss. Ein Glas Milch genügt für die Tagesmenge, 100 Gramm Miesmuscheln enthalten gut das Doppelte, 150 Gramm Hering gleich die vierfache, 100 Gramm magere Leberwurst die siebenfache Dosis. Mit anderen Worten: Veganer (strenge Vegetarier, die weder Milch- noch Eiprodukte verzehren) haben – theoretisch – ein Problem.

Ein Millionstel Gramm täglich genügt

Tatsächlich ist der Bedarf an diesem Vitamin so gering – je nach Experte zwischen 0,001 und 0,005 Milligramm täglich -, dass schon der Verzehr von Mikroorganismen an Salaten oder Gemüse einen Teil dieser Menge liefern kann. Eine handgewaschene Biokarotte direkt aus dem Garten enthält z.B. etliches an Vitamin B12, da sich Erd-Bakterien noch auf ihrer Oberfläche befinden. Auch Bakterien im Dünn- und Dickdarm können das Vitamin produzieren. Das ist vermutlich der Grund, weshalb wir so wenig davon brauchen. Ob aber unsere Eigenproduktion nicht vielleicht sogar ausreicht, ist wiederum eine Streitfrage. Immerhin versorgen die Darmbakterien der Tiere, die wir essen, ihren Körper mit den nötigen Mengen des Vitamins.

Das Problem ließe sich leicht lösen, wenn sich ein Vitamin-B12-Mangel schnell bemerkbar machte. Doch das tut er nicht, weil unsere Leber davon bis zu fünf Milligramm speichern kann, so dass sie den Körper bei einem plötzlichen Cobalamin-Defizit zehn bis 20 Jahre lang mit dem lebensnotwendigen Stoff versorgen kann – vorausgesetzt, sie bekam vorher genügend Mengen zum Einlagern.

Und dann huckepack ins Blut

Vitamin B12 braucht der Körper für die Bildung der roten Blutkörperchen, zum Schutz des Nervengewebes sowie zur Kommunikation zwischen den Nerven und zum Aufbau der DNS, jener Säure, die in den Zellen unsere Erbinformationen trägt. Dementsprechend sehen auch Cobalamin-Mangelerscheinungen aus: Blutkrankheiten, Nervenstörungen, verminderte Zellteilung und psychiatrische Symptome. Vergleichsweise „milde“ Symptome sind Kopfschmerzen, Müdigkeit und Konzentrationsschwäche. Es ist also nicht zu weit hergeholt, das Vitamin als absolut lebensnotwendig zu bezeichnen.

Damit unser Organismus Vitamin B12 aufnehmen kann, hat die Evolution ein paar Tricks ersonnen. Zunächst produzieren Zellen der Magenwand Salzsäure und ein Enzym namens Protease, um das Cobalamin aus dem Nahrungsbrei herausfischen zu können. Doch in den Blutkreislauf gelangt das Vitamin damit noch lange nicht. Bestimmte Proteine – der so genannte intrinsic factor – nehmen es „huckepack“ und tragen es ins Blut. Dort übernehmen wiederum andere „Eiweiß-Taxis“ die Beförderung in die Körperzellen. Und weil das Vitamin so wertvoll ist, behandelt es der Körper wie Gold. Es wird, nachdem es seine Aufgabe im Zellstoffwechsel erfüllt hat, nicht einfach ausgeschieden; vielmehr gehen weitere Eiweiße im Dünndarm auf Cobalamin-Suche, schnappen sich das Vitamin und transportieren es zurück ins Blut. Das ist ein weiterer Grund, weshalb wir mit so wenig davon auskommen.

Beugt Herzinfarkt und geistiger Umnachtung vor

Andererseits erklärt dieser komplizierte Weg des Vitamins vom Magen bis in die Zellen auch, weshalb es zu einem B12-Mangel kommen kann. Je älter wir nämlich werden, desto mehr nimmt die Produktion des intrinsic factors – individuell verschieden – ab. Dann können wir unserer Nahrung, so gut sie sein mag, immer weniger Cobalamin entnehmen. Schwermut, Depressionen und Gedächtnisschwund sind mögliche Folgen. Wissenschaftler der Universität in Oxford, die bei 107 Senioren zwischen 61 und 87 Jahren Gehirnscans und Blutproben über fünf Jahre hinweg nahmen, stellten fest, dass die alterstypische Verminderung des Hirnvolumens bei den Probanden am geringsten ausfiel, die am meisten Vitamin B12 im Blut hatten.

Richtig gefährlich kann der steigende – und meist unbemerkte – Homocystein-Spiegel im Blut infolge von B12-Mangel werden. Homocystein entsteht als Folgeprodukt, wenn im Körper Eiweiß abgebaut wird. Es wird im natürlichen Zyklus des Stoffwechsels ständig aus dem Körper ausgeschieden. Funktioniert dieser Mechanismus nicht, kann das ernste Folgen haben. Ein erhöhter Homocysteinspiegel verdickt die Wände der Arterien und erhöht das Risiko für Thrombosen. Die Aminosäure scheint also direkt an der Gefäßalterung beteiligt zu sein und gilt als wichtiger Risikofaktor bei Herzinfarkt. Umgekehrt gilt: Ein hoher Vitamin-B12-Spiegel senkt mit hoher Wahrscheinlichkeit das Risiko, einen Herzschlag zu bekommen.

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B12-Mangel bei jeder dritten Frau über 50

Wie hoch der B12-Mangel tatsächlich ist, wollten Forscher der Universität Hannover wissen und guckten 220 Frauen ein halbes Jahr lang auf die Teller. Man wollte herausfinden, ob Frauen ab 50 genügend Vitamine zu sich nehmen. Die Ergebnisse der Studie lassen aufhorchen: Jede dritte Frau der Altergruppe 50plus hatte viel zu wenig Vitamin B12 im Blut. Und das trotz ausgewogener Ernährung mit Obst und Gemüse. Prof. Dr. Klaus Pietrzik vom Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Bonn erklärt das so: „Ältere Menschen haben häufig Magen-Schleimhaut-Erkrankungen. Dadurch kann das wichtige Vitamin B12 nicht mehr so gut aus der Nahrung aufgenommen werden.“ Oft würden diese Magen-Schleimhaut-Erkrankungen ganz ohne Symptome verlaufen. Sprich: Man merkt nichts davon; schleichend kommt es zu einem Vitamin-B12-Mangel.

Die seelischen Auswirkungen von Vitamin B12 untersuchten Forscher in Finnland. Das Team von Prof. Jukka Hintikka vom Kuopio University Hospital beobachtete sechs Monate lang 115 ambulante Patienten mit Depressionen. Zu Anfang und Ende der Behandlung wurden die Vitamin-B12-Werte im Blut gemessen. Dabei zeigte sich, dass jene Patienten, die gut auf die Behandlung mit Antidepressiva ansprachen, reichlich Vitamin B12 im Blut hatten und umgekehrt. Die finnische Untersuchung lässt vermuten, dass die Zufuhr von Vitamin B12 hilft, depressiven Verstimmungen nicht nur vorzubeugen, sondern diese auch zu verbessern.

Vermutlich führt B12-Mangel auch zu Hörproblemen bei Seniorinnen. Zu diesem Schluss kommt ein Bericht der University of Georgia, der im American Journal of Clinical Nutrition veröffentlich wurde. In der Studie untersuchte man einerseits die Hörfunktion und anderseits die Blutspiegel von Vitamin B12 und Folsäure bei einer Gruppe von 55 gesunden Frauen im Alter zwischen 60 und 71. Die Frauen, die schlecht hörten, hatten um 38 Prozent weniger Vitamin B12 im Blut als ihre normal hörenden Altersgenossinnen. Offenbar reagiert die Cochlea, in der die Schallwellen in elektrische Impulse umgewandelt werden, besonders sensibel auf einen Mangel an Cobalamin. Sie wird von nur einer Arterie versorgt, sodass sie besonders empfindlich gegenüber einem eingeschränkten Blutfluss ist, der durch einen Vitamin-B12- oder Folsäuremangel zustande kommen kann.

Ähnlich spannend wie der Einfluss von Vitamin B12 auf das Hörvermögen ist dessen Auswirkung auf die Knochen-Mineraldichte von Frauen. Eine mehrjährige Studie kalifornischer Mediziner an der University of California und am California Pacific Medical Center Research Institute zeigte, dass Frauen mit den niedrigsten B12-Werten jährlich 1,6 Prozent im gesamten Hüftknochen-Bereich verloren. Bei Frauen, die gut mit Vitamin B12 versorgt waren, sank die Knochen-Mineraldichte in den Hüftknochen dagegen nur um 0,2 Prozent.

Die Cobalamin-Vorräte der Leber aufstocken

Einem B12-Mangel gegensteuern lässt sich einerseits mit regelmäßiger, Cobalamin-haltiger Nahrung, andererseits – so die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für ältere Menschen – durch hochdosiertes Vitamin B12 in Tabletten- oder Kapselform bzw. als Trinkfläschchen aus der Apotheke. Es kann passiv vom Körper aufgenommen werden und ist nicht auf den intrinsic factor aus dem Magen angewiesen. Auch intramuskulär verabreichte Vitamin-B12-Spritzen werden als mehrwöchige Kur angeboten, um die Cobalamin-Vorräte der Leber wieder aufzufrischen. Eine Gefahr der Überversorgung scheint nicht zu bestehen. Jedenfalls sind keine Beschwerden durch eine B12-Überdosierung bekannt. Allerdings können sehr hohe Dosen ab fünf Milligramm zu allergischen Reaktionen oder Hautausschlägen führen oder diese verstärken.

Was Veganer tun sollten

Einen unbestritten hohen Vitamin-B12-Gehalt haben Innereien – allen voran Leber -, Fleisch, Fisch, Milch, sämtliche Milchprodukte und Eier. Je länger diese Lebensmittel ohne zuverlässigen Luftabschluss den „Vitaminkillern“ Licht und Sauerstoff ausgesetzt sind, desto mehr geht auch ihr Vitamin B12 verloren; durch Kochen verlieren Lebensmittel etwa 12 Prozent ihres B12-Anteils. Auch in Brottrunk, lang gesäuertem Sauerkraut sowie in Sanddorn ist das Vitamin enthalten. Hier wird es aber nicht von den Pflanzen selbst hergestellt, sondern von den Milchsäurebakterien im Rahmen der Kohl-Säuerung bzw. durch den Mikroorganismus Actinomyces in den Samenschalen des Sanddorns. Dort soll der Wirt so große Mengen des lebenswichtigen Vitamins erzeugen, wie man sie sonst nur in Fleisch findet. Ähnlich gute Cobalamin-Lieferanten scheinen die Knöllchenbakterien der Lupine sein. Sauerkraut, Sanddorn und Lupine, aber auch Algen, Hefe und Getreide-Keimlinge gelten als die B12-Hoffnungen der Veganer, obgleich immer wieder darauf hingewiesen wird, bei diesem B12 handle es sich um kein echtes, sondern ein Pseudo-Vitamin B12. Der American Dietetic Association zufolge können 80 bis 94 Prozent des Vitamin B12 in fermentierten Pflanzenprodukten wertloses Pseudo-B12 sein. Die Diskussion auch in Vegetarierkreisen zu diesem Thema ist äußerst kontrovers, u.a. auch deshalb, weil die Vitamingehalte pflanzlicher Produkte extrem schwanken können und folglich unzuverlässig sind. Man empfiehlt deshalb Veganern meist, sicherheitshalber ihre Ernährung um Cobalamin-Präparate aus der Apotheke zu ergänzen. Dies sei kein Problem, da diese Produkte in der Regel nicht aus tierischen Rohstoffen gewonnen werden, sondern aus Bakterienkulturen. Jüngste Entwicklung für Vegetarier: eine mit Vitamin B12 angereicherte Zahncreme. Bei ihr spielt der intrinsic factor keine Rolle, da das Vitamin über die Mundschleimhaut aufgenommen wird.

Bobby Langer

Quellen: aerztezeitung.de; Brockhaus Ernährung; deam.de; dgk.de; djd; dr-walser.ch; ever.ch; food-x.de; lebensmittellexikon.de; m-ww.de; novafeel.de; vegansociety.com; veganswines.com; vegetarismus.ch; wala.de; wdr.de; wikipedia; wissenschaft.de


Bobby Langer hat viele Jahre lang als freier Journalist und im PR-Geschäft gearbeitet. Seine Spezialität ist das sorgfältige Zuhören und die verständliche Formulierung auch schwieriger Sachverhalte. Bei ecoFAIRpr hat er zurzeit die Redaktionsleitung.


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